Unterwegs in Jelzins und Putins Russland
Artikel aus dem „Blättchen“ 1998 bis 2007






Artikel aus dem „Blättchen“ 1998 bis 2007
Der Aufgabe, die Revolution gegen das Kapital zu einem siegreichen Ende zu führen, hat Lenin sein Leben gewidmet. Dafür hat er Entbehrungen, Verfolgung und Exil auf sich genommen. Dass der erste Anlauf 1905 scheiterte, warf ihn nicht aus der Bahn. Als sich die Massen im Frühjahr 1917 erneut erhoben und den Zaren stürzten, sah er sich endlich am Ziel. Mit einigen Getreuen wählte er den kürzesten Weg zurück. Da dieser durch das Land des Kriegsgegners führte, wurde er des Verrats bezichtigt. In Petrograd eingetroffen, unternahm er selbst- und rücksichtslos alles, um die Revolution voranzubringen. Am Ende sollte sich diese Revolution als eine Revolution gegen »Das Kapital« erweisen. Das von Lenin begründete und von seinen Nachfolgern ausgebaute Regime wurde und wird von Freund und Feind oft mit seinen Absichten identifiziert, während in Wirklichkeit zwischen dem, was er schaffen wollte, und dem, was er tatsächlich schuf, ein unüberbrückbarer Abgrund bestand. Wladislaw Hedeler, geb. 1953, ist Historiker, Übersetzer und Publizist. In der Reihe »Biografische Miniaturen« erschienen von ihm »Josef Stalin oder: Revolution als Verbrechen« (2023) und »Julius Martow oder: Für die Diktatur der Demokratie« (2023).
Der heute fast vergessene Julius Zederbaum (Martow) (1873–1923) zählte zu Beginn seiner politischen Laufbahn zu Lenins Kampfgefährten. Nach der von ihm abgelehnten Oktoberrevolution der Bolschewiki 1917 gehörte er zu den international bekanntesten marxistischen Theoretikern der Menschewiki und sachkundigsten Kritikern Lenins. Martow war 1895 der Erfinder des Namens »Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse«, lehnte in der Programmdebatte 1903 das Konzept der »Partei neuen Typs« ab, hatte 1917 die Idee zur Rückreise der russischen Emigranten durch Deutschland, propagierte die Diktatur der Demokratie statt der Diktatur des Proletariats und plädierte – ab 1920 im deutschen Exil – für die Gründung einer anderen, für ihn wahrhaften Internationale. Seine letzte Ruhe fand der zu früh verstorbene Sozialist auf dem Urnenfriedhof im Berliner Wedding.
Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili (1878–1953), genannt Stalin, Nachfolger von Lenin, hat als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Verlauf der Geschichte seines Landes und der Welt entscheidend geprägt. Sein Name (»Mann aus Stahl«) war für Kampfgefährten wie für Opponenten Programm. Die einen würdigten ihn als »Lenin von heute« und sahen in ihm den »Lokomotivführer der Weltgeschichte«, die anderen warnten vor dem »Totengräber der Revolution« und beschuldigten ihn des Genozids am eigenen Volk. Stalin polarisierte. Unter seinem Banner hofften viele, den Weg in eine lichte Zukunft zu finden, während für diejenigen, die einen anderen Weg wählten, der Bruch mit dem Stalinismus als System am Anfang stand. Heute ist Stalin aktueller denn je. Er symbolisiert den Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht, den die heutige politische Führung in Moskau wieder zurückerlangen möchte. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen, hinter Legenden verborgenen Leben.
Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953. (Schriftenreihe, Band 686) Wladislaw Hedeler bpb Bundeszentrale für politische Bildung
Im Jahr 1917 erlebte Russland eine Mischung aus Aufbruchstimmung und Massenelan, Hilflosigkeit und politischem Kalkül. Die Menschen litten unter Unterdrückung und Krieg, suchten Frieden und hofften auf einen „Erlöser“ wie Kerenski, Kornilow oder Lenin. Der Sturz des Zaren führte zur „großen russischen Volksrevolution“, die den Rausch der „Demokratie“ entfachte. Doch die dauerhafte Gestaltung dieser Demokratie scheiterte, da Personen, Parteien und Regierungen unterschiedliche Interpretationen hatten und sich zerstritten. Sie konnten die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung nach Frieden, Freiheit, Land, Selbstbestimmung und Brot nicht erfüllen. Die Bolschewiki, unter Lenins Führung, zerschlugen den gordischen Knoten und wagten den bewaffneten Aufstand, trotz Warnungen anderer Linker. War dies der Beginn einer sozialistischen Revolution? Wer kann sich heute auf diese Ereignisse berufen, und wer möchte sie als Teil der Geschichte abtun? Diese Revolution und ihre weitreichenden Folgen, die für viele Millionen Menschen eine gelebte Erfahrung darstellten, werden in diesem Buch durch Beiträge und weitgehend unbekannte Dokumente beleuchtet.